Gedenken an Massenmord

Heute vor 67 Jahren befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz, bzw. das, was davon übrig geblieben war. Um das Ausmaß der Verbrechen zu verschleiern hatten die Nazis die verbliebenen Gefangenen gezwungen, mit ihnen vor der näher rückenden Front zu fliehen – Tausende von Zwangsarbeit und Hunger ausgemergelte Menschen mussten sich in unzureichender Kleidung und ohne Nahrung auf den Weg durch bittere Januarkälte machen – wer zurück blieb, wurde erschossen. Wer nicht erschossen wurde, erfror. Auch für die meisten der im Lager übrig Gebliebenen kam jede Hilfe zu spät – die Bilder dessen, was die vorrückenden Befreier vorfanden, machen noch immer sprachlos.

Es ist richtig, daran zu erinnern, was Deutsche anderen Menschen angetan haben. Denn es waren nicht nur die Nazis – die sind nicht vom Himmel gefallen und haben das eigentlich so gute deutsche Volk schändlich missbraucht. Auch wenn da immer wieder die eine oder andere Dolchstoß-Legende im Umlauf war: Die Leute haben sich benutzen lassen, viele haben profitiert. Viele wussten, was passiert, und nicht wenige waren damit einverstanden.

Aber es waren nicht alle Nazis. Bei der Wahl im November 1932 stimmten „nur“ gut 33 Prozent für die NSDAP. Die SPD bekam 20,4 Prozent der Stimmen, die KPD knapp 17 Prozent und das konservative Zentrum bekam knapp 12 Prozent. Es gab also eine Zweidrittel-Mehrheit jenseits der ausgewiesenen Nazipartei. Und doch hat eine Mehrheit die Nazis einfach machen lassen.

Ja, es gab auch Deutsche, die Widerstand geleistet haben. Und keineswegs nur konservative Adlige um Stauffenberg, die viel zu spät erkannten, dass Hitler alles ruinieren würde. Sondern einfache Arbeiter, Kommunisten, Sozialisten, solche, die ins KZ gesteckt und umgebracht wurden, weil sie gegen die Nazis waren. Und es gab auch eigentlich unpolitische Leute, die das Herz auf dem richtigen Fleck hatten. Bauersfrauen, die Zwangsarbeitern Kartoffeln oder Brot zugesteckt haben, Menschen, die fremde Kinder als ihre eigenen ausgegeben haben, um sie zu retten und so weiter. Aber dieses Heldentum im Kleinen wiegt die Schmach der vielen anderen nicht auf. Die Schmach der Masse, nicht mehr getan zu haben, nicht einzutreten gegen offensichtliches Unrecht, gegen Dummheit und Verblendung.

Zu viele haben profitiert – und man kann es den Leuten im Einzelfall dann auch wieder kaum verdenken, denn es ging den Leuten schlecht, in den 20er und 30er Jahren. Wer freute sich da nicht über eine bessere Wohnung, weil die Rosenzweigs oder die Kornblums auswandern mussten und ihre Wohnung frei wurde? Oder über die Möbel für die ersten Ausgebombten? Manch kleiner Krauter freute sich, wenn er zu Superkonditionen einen zwangsarisierten Laden übernehmen konnte – es waren ja auch nicht alle Juden reich. Und doch ist es so unglaublich schäbig, wie einfach es war, den Leuten zu erklären, dass sie besser seien und es verdient hätten, während man den anderen schlicht die Lebensberechtigung absprach.

Genau deshalb überkommt mich der Brechreiz, wenn einer wie Thilo Sarrazin darüber schwadroniert, dass es sich bei der einen Bevölkerungsgruppe eher lohnt, wenn sie Nachwuchs produziert als bei anderen. Wie steht er eigentlich zu unglaublich gut ausgebildeten, wirtschaftlich erfolgreichen Vollarieren, die gern den Kommunismus einführen würden, weil sie das herrschende System total daneben finden?! Fördern oder Vergasen?!

Außerdem sollte der von Reich-Ranickis Rede zu recht erschütterte Bundestag nach seiner ganzen Erschütterung und Rührung über all das gelungenen Gedenken nicht vergessen, dass doch immer Millionen von Elendsgestalten über diese Erde wandeln – in irgendwelchen Auffanglagern in Afrika zumeist, wo die Menschen stranden, die vom Weltwirtschaftssystem als nutzlose Esser aussortiert wurden und entsprechend dem Hungertod preisgegeben sind.

Und vielleicht bald auch in Griechendland. Und in Irland, Spanien, Portugal. Oder Mecklenburg-Vorpommern.

Über modesty

Akademisch gebildetes Prekariat. Zeittypische Karriere: anspruchsvolle Ausbildung, langwieriger Berufseinstieg, derzeit anstrengender, aber schlecht bezahlter Job mit unsicherer Perspektive. Vielseitige Interessen, Literatur, Film, Medien, Wissenschaft, Politik, Geschichte, Gesellschaft, Zeitgeschehen. Hält diese Welt keineswegs für die beste aller möglichen, hofft aber, dass sie besser werden kann. Möchte gern im Rahmen der bescheidenen Möglichkeiten dazu beitragen.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, einfach nur ärgerlich, Gesellschaft abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

5 Antworten zu Gedenken an Massenmord

  1. Oliver schreibt:

    2/3-Mehrheit GEGEN die Nazis ist wohl nicht ganz richtig. Es gab noch andere „völkische“ Parteien wie zB die DNVP. Die Koalition dieser „Konservativen“ mit den Nazis hatte nach der Wahl vom 5.März 33 eine einfache parlamentarische Mehrheit, die auch heutigen demokratischen Ansprüchen genügen würde. Nicht zuletzt hatte das Zentrum (Vorläufer von CDU) dem „Ermächtigungsgesetz“ zugestimmt und damit die Abschaffung der Demokratie unterstützt. Als EINDEUTIG gegen die Nazis würde ich nur Kommunisten und Sozialdemokraten einstufen (also etwas mehr als 1/3). Es muß in diesem Zusammenhang auch an die jubelnden MASSEN erinnert werden, die keine andere Partei weder damals noch heute auf die Straße bringen konnte/kann.

    • modesty schreibt:

      Ja, das stimmt, das habe ich nicht richtig dargestellt. Dass die Leute die Nazis haben machen lassen, ist aber so oder so Tatsache.

      • Sepp Aigner schreibt:

        Die letzten freien Wahlen waren die von 1932. Die März-Wahlen von 1933 standen schon unter dem Terror der Nazis und spiegeln die Stimmung in der Bevölkerung nicht wider.

  2. Norbert schreibt:

    Danke, modesty, für den wertvollen Beitrag. Ich stimme Dir völlig zu. Ausführlicher und historisch korrekt steht es auch im DDR-Geschichtsbuch für die 9.Klasse (Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin, 1988, S.98-200). Doch leider stimmt es nicht, daß die Sozialdemokraten „eindeutig“ gegen die Nazis waren. Schon die ersten Aktionen der Antifaschisten (die KPD hatte am 30.Januar 1933 zum Generalstreik aufgerufen) wurden von rechten SPD- und Gewerkschaftsführern boykottiert. Nachdem die beiden Arbeiterparteien KPD und SPD im März 1933 bei den Wahlen zusammen 12 Millionen Stimmen bekommen hatten, die Naziss dagegen dank der massiven Unterstützung durch die staatlichen Machtorgane und mit dem Geld der Monopole 17 Millionen Stimmen erhielten, erklärte die Hitlerregierung kurzerhand die 81 Reichstagsmandate der KPD für ungültig. Damit war die bürgerlich-parlamentarische Republik auch formal beseitigt, und der Weg war frei grausame faschistische Verbrechen. Es folgte eine bis dahin beispiellose Gleichschaltung und Festigung des faschistischen Machtapparates. Die „jubelnden Massen“ waren keineswegs eine „schweigende“, sondern eine irregeführte Mehrheit. Die Mitläufer der Nazis kamen aus dem Kleinbürgertum, aus der manipulierten, ungebildeten Arbeiterklasse, sie bestanden aus konservativen und verirrten Intellektuellen, und sie kamen aus dem Bürgertum…
    http://sascha313.blog.de/2011/11/19/nazis-12192468/
    P.S. Darf ich Deinen Beitrag übernehmen?
    Gruß Norbert

  3. modesty schreibt:

    Ja, mit Verweis auf mein Blog gerne. Ich käme übrigens nicht auf die Idee, zu behaupten, dass die SPD eindeutig gegen die Nazis gewesen wäre – schließlich ist Herr S. meines Wissens noch immer SPD-Mitglied. Außerdem hat diese Partei ja schon beim ersten Weltkrieg bewiesen, dass der deutsche Patriot immer mit ihr rechnen kann… ich bin mir übrigens nicht sicher, ob die jubelnden Massen tatsächlich alle so irregeführt waren, wie immer wieder behauptet wird. Wie ich schon beschrieben habe: Es haben viele profitiert, und zwar auch der berühmte „kleine Mann auf der Straße“, zumindest sofern der Ariernachweis stimmte.

Hinterlasse einen Kommentar